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Interview mit Philipp Weiss / Hamakom

Interview mit Philipp Weiss

Über die Literatur in Zeiten des Klimawandels, den Umgang mit dem Unvorhersehbaren, das fiktionsbedürftige Tier Mensch, Utopien und das subversive Potential der Frauenrollen.

Philipp Weiss im Gespräch mit Patrick Rothkegel

Philipp Weiss

Dein Roman behandelt unter anderem die Dialektik von technologischem Fortschritt und den sich daraus ergebenden Gefahren für die Menschheit, die dann mit noch effizienteren und effektiveren Technologien bekämpft werden müssen. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung findet sich in einem zentralen Motiv deines Romans, der Reaktorkatastrophe von Fukushima. Wie verhält sich für dich inhaltlich das Stück zum Roman? Ist das eine Weiterführung deines Denkens oder ein neuer Ansatz oder etwas dazwischen?

Das Stück schließt direkt an den Roman an. Während ich im „Weltenrand“ der Frage nachgegangen bin, wie es zu dieser technischen Membran gekommen ist, die sich über unseren Planeten gelegt hat, und welche Konsequenzen dieser technische Weltzustand in unserer Gegenwart hat, so stelle ich im „Letzten Menschen“ die daraus folgende Frage nach der Zukunft. Wie könnte es von hier aus weitergehen? Was müssen wir befürchten? Was dürfen wir hoffen?

Sowohl im Roman aber fast noch mehr im Stück geht es um das ganz Große, um die Zukunft der Menschheit als Ganzes. Was treibt dich zu diesen großen Themen?

Ich glaube, es ist der Zustand der Welt selbst, der mir keine andere Wahl lässt, als nach dem Großen zu fragen. Wenn Brecht vor 80 Jahren schrieb, ein Gespräch über Bäume sei ein Verbrechen, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt, so kann man das heute umkehren. Ein Verbrechen wäre es, nicht über Bäume, das heißt, über den Naturzusammenhang und dessen Zerstörung zu sprechen. Was sind das für Zeiten, in denen ein Gespräch über das Wetter eine Anklage ist? Das Selbstverständliche hat seine Unschuld verloren. Selbst das Alltäglichste – Was esse ich? Wie wohne ich? Wie bewege ich mich fort? – muss sich heute zum Großen in ein Verhältnis setzen.

Es liegt im Schreiben für dich also eine Verantwortung?

Natürlich! Das Erzählen hat für den Menschen immer schon eine Orientierungs- und Selbstvergewisserungsfunktion. Der Mensch erklärt sich im Erzählen die Welt. Es sind die Geschichten, die uns seit jeher aufklären darüber, was wir sind, welche Stellung wir im Kosmos haben, und was das alles überhaupt bedeuten soll. Nun versagt aber meiner Ansicht nach das Erzählen weitgehend an der Komplexität unserer globalisierten Gegenwart. Unsere Imagination scheint amputiert und gelähmt in Anbetracht einer kapitalistischen Weltmaschine, die uns an den Rand gestellt hat. Überfordert, berauscht und narkotisiert scheitern wir daran, uns das Ganze und auch das Zukünftige noch vorzustellen. Was wir aber nicht vorstellen – und das heißt vor allem auch erzählen – können, können wir auch nicht verantworten und somit nicht verändern. Es braucht daher ein neues Erzählen, als Selbstermächtigung, das uns unsere Eigenverantwortung zurückgibt. Dazu versuche ich einen Beitrag zu leisten.

In deinem Text werden drei mögliche Entwürfe des Jahres 2107 erzählt. In jedem Szenario begegnen wir der Frau Liv van der Meer, die im Jahr 2019 geboren wird. Wie bist du zu diesem Setting gekommen?

In der Klimaforschung und im Risikomanagement gibt es ein wunderbares Werkzeug, um mit dem Unvorhersehbaren umzugehen: die Szenariotechnik. Ich kann nie wissen, was kommt, aber ich kann mir verschiedene wahrscheinliche und auch unwahrscheinliche Geschichten darüber erzählen, was kommen könnte – und mich dann zu jeder dieser Geschichten verhalten. Das kannten bereits die Stoiker. Seneca nannte das „premeditatio malorum“. Wenn ich mir das Schlimmste immer als Möglichkeit vor Augen halte, bin ich, wenn es eintreten sollte, gewappnet. Für das Stück habe ich also drei mögliche Szenarien entwickelt: erstens ein Kollapsszenario; zweitens die Geschichte einer technologischen Selbstüberwindung; und drittens eine utopische Erzählung, die fragt, wie denn eine wünschenswerte Zukunft aussehen könnte. Die drei weltgeschichtlichen Szenarien werden jeweils gespiegelt durch die Hauptfigur, Liv van der Meer, die ich in drei Paralleluniversen entlasse und in diesen ihr Leben verfolge. Während sich unsere Wirklichkeit aber prometheisch, von der Gegenwart in die Zukunft, das heißt, zu jedem Zeitpunkt unvorhersehbar entfaltet, geht das Erzählen einen anderen Weg. Erzählt wird immer von einem Ende her, rückwärts. Meine Szenarien folgen also der Bewegung des wunderbaren Futur II. Was wird einmal gewesen sein?

Mich interessiert besonders die Frage nach der Utopie. Wie stellst du dir eine solche wünschenswerte Zukunft vor?

Ich erzähle die Geschichte eines radikalen gesellschaftlichen Wandels, vergleichbar mit der alles umstülpenden Industriellen Revolution. Möglich wird dieser Wandel durch den teilweisen Zusammenbruch des alten Systems, also durch das Ende des Parasitären Zeitalters – ein Schock, der die Menschheit zusammenrücken lässt und zuallererst einen Neubeginn erlaubt. Was sich allem voran verändert, ist das menschliche Naturverhältnis. Statt die Natur als Losgekoppeltes, als ewig auszubeutendes Außen zu betrachten, beginnt die Utopie mit der Möglichkeit der Symbiose. Die rettende Verwandlung setzt auch die Fähigkeit zu globaler Kooperation voraus – konkret in Form eines Weltparlaments –, und eine befreiende imaginative Kraft, nämlich die wiedererlangte Fähigkeit zu träumen.

Es fällt auf, dass in deinem Stück keine Männer direkt vorkommen und wenn sie indirekt vorkommen, kommen sie schlecht weg. Livs Vater war anonymer Spender einer bulgarischen Samenbank, Liv wird in einem Szenario von unbekannten Männern in einem Lager vergewaltigt. Abgesehen davon kommt nur Wei vor, der wiederum ist allerdings ein Androide. Der einzige Mann, der positiv besetzt ist, wird ermordet. Siehst du die Zukunft weiblich?

Das Weibliche, nicht als Biologisches, aber als gesellschaftliche Rolle, ist mir als Erzähler immer komplexer erschienen, facettenreicher und spannungsreicher. Vielleicht muss ich mein Männerbild überdenken, aber jedes Mal wieder, wenn ich beginne zu schreiben, interessieren mich Frauenfiguren mehr als männliche Charaktere. Jede Frau trägt in sich womöglich eine überindividuelle Geschichte der Unterdrückung und der potentiellen Selbstermächtigung. Das macht Frauen und deren gesellschaftliche Rolle dynamischer und vielschichtiger. Betrachtet man die Geschichte des Feminismus im 19. und 20. Jahrhundert, kann man zu dem Schluss kommen: Frauen haben unsere Gesellschaften verändert, Männer verharrten in alten Rollen und Machtstrukturen und tun das zum Teil heute noch. Ja, in der Rolle der Frau sehe ich mehr utopisches und subversives Potential. 

Greta Thunberg nennt den anthropogenen Klimawandel die „größte Gefahr, der die Menschheit jemals gegenüber stand“. Stimmst du ihr zu?

Absolut! Betrachtet man die Klimageschichte unseres Planeten, kommt man zu dem Schluss: Dieses aus menschlicher Perspektive ewig dünkende Gefüge aus Meeren, Kontinenten, Bergen, Eismassen, Flüssen, Wäldern und Atmosphärengasen ist ein komplexes, höchst fragiles System, das oft dramatischen Veränderungen unterlag. Auf dem Höhepunkt der letzten Eiszeit vor 20.000 Jahren lag der Meeresspiegel 120 Meter unter dem heutigen Niveau und man konnte zu Fuß den Ärmelkanal zu den Britischen Inseln überqueren! Ist das nicht unglaublich? Vor 10.000 Jahren aber passierte etwas höchst Ungewöhnliches. Das Klima stabilisierte sich, die drastischen Schwankungen endeten. Somit waren die Voraussetzungen gegeben, um Kultur und Zivilisation überhaupt erst zu entfalten. Die Menschen ließen sich nieder, erfanden den Ackerbau und die Viehzucht, schufen immer komplexere Formen des Zusammenlebens. Sie begannen, Wissen und Strukturen zu tradieren, von Generation zu Generation, ohne dass Klimaschwankungen immer wieder alles zerstört hätten. Was wir menschliche Geschichte nennen, spielt sich ausschließlich in diesem klimageschichtlichen Luxusmilieu, dem Holozän, ab. Es fungiert wie ein schützendes Nest. Wir kennen nichts anderes und sind auch gegen nichts anderes gewappnet. Aber nun sind wir auf bestem Weg, diese Stabilitätsphase gefährlich zu manipulieren, indem wir massiv in das Erdsystem eingreifen. Mit ungewissem Ausgang. Die Veränderungen werden drastisch sein.  

Was ist für dich ein tröstlicher Gedanke?

Wir Menschen sind eine ungemein anpassungsfähige Spezies. Aber warum eigentlich? Wir sind weder besonders stark, noch schnell, noch haben wir besonders robuste Körper. Dafür besitzen wir zwei Eigenschaften: die Fähigkeit zur Imagination und zur Kooperation. Wir müssen nichts hinnehmen, wie es ist, wir können uns vorstellen, wie es sein könnte! Weil wir Sprache haben, die uns vom Gegebenen freispricht. Das macht uns ungemein kreativ und lösungsorientiert. Als Einzelne sind wir nichtsdestotrotz ohnmächtig. Alles, was die Menschheit erreicht hat, basiert auf Kooperation, auf einem Bund, über Raum und Zeit hinweg, zwischen Orten, Weltteilen und Generationen. Wenn wir diese Tugenden wieder aktivieren können, gibt es Hoffnung. 

Was kann eine Imagination der Zukunft für unsere Gegenwart bedeuten?

Wir sind fiktionsbedürftige Tiere. Wir brauchen die Zukunftsphantasie heute so dringend wie nie zuvor, um uns vor uns selbst zu retten. Neben den apokalyptischen Klimaszenarien und den Maschinenträumen des Silicon Valley brauchen wir vor allem ein positives Zukunftsnarrativ, also eine Geschichte der Hoffnung.  Wie kommen wir aus dem ganzen Schlamassel wieder heraus? Wie können unsere Urenkel noch einen lebenswerten Planeten vorfinden? Wie erträumen wir uns die Zukunft des Menschen? Wenn eine transformative Erzählung Erfolg hätte, wenn sie viral ginge, könnte sie Milliarden Menschen Halt geben, Kreativität und Kraft freisetzen. Die einzige Chance, die wir haben, das Ruder herumzureißen und einen radikalen Wandel einzuleiten, ist die Mobilisierung der Massen. Eine attraktive Erzählung kann das leisten, wenn sie uns animiert zu sagen: Ja, wir wollen Teil sein von dieser Transformation hin zu einer besseren Welt.

Du hast nach jahrelanger Arbeit dein Romandebüt fertig geschrieben, hast es auf Buchmessen präsentiert, Interviews gegeben und Dutzende von Lesungen gemacht. Was hat dich zugebracht nach einer so arbeitsintensiven Zeit einen Theatertext für das Theater Nestroyhof Hamakom zu schreiben?

Das habe ich mich auch oft gefragt. (lacht) Ich war tatsächlich sehr erschöpft nach den Jahren der Romanarbeit, eine Pause hätte mir sicher gut getan. Aber die Themen drängen. Ich habe da sicher eine gewisse freundliche Besessenheit. Und da ich vor dem Roman ja bereits fürs Theater geschrieben habe, dort aber meinen Platz nie wirklich finden konnte, stand für mich die Frage im Raum, ob ich überhaupt daran anschließen will. Mein Fazit: Das Medium Theater interessiert mich, aber die Produktionsbedingungen schrecken mich ab. Ich suchte also nach einem Theater, das nicht nach dem Muster der Kulturmaschinerie funktioniert, nach Menschen, mit denen ich über einen längeren Zeitraum etwas entwickeln kann, das Substanz hat. Diese Menschen fand ich im Nestroyhof Hamakom.

Du hast von Ingrid Langs bisherigen Arbeiten „Die Orgie“ von Pasolini und „Das Kasperlspiel vom Meister Siebentot“ gesehen. Wie findest du ihre bisherigen Arbeiten und was erhoffst oder wünschst du dir von der Inszenierung von deinem Text?

Ingrid ist eine neugierige und mutige Regisseurin, die vor schwierigen Themen und Texten nicht zurückschreckt. Das hat mich auch dazu ermutigt, ihr ein schönes Ungetüm von Text zuzumuten. (lacht) Ihre Inszenierungen erscheinen präzise, immer getragen von einem klaren Gedanken und einer sehr ästhetischen, durchchoreographierten Bildsprache. Ich weiß es sehr zu schätzen, dass sie sich eingelassen hat auf dieses gemeinsame Wagnis, auf diesen Dialog mit offenem Ausgang, bereit, sich selbst künstlerisch zu riskieren.

Wie erlebst du eure Zusammenarbeit bisher?

Gute Zusammenarbeit am Theater braucht, so glaube ich, nicht die herkömmlichen Hierarchien, aber sehr wohl eine klare Kompetenzverteilung.  Das ist bei uns gegeben. Wir sind beide künstlerische Dickköpfe, sicher. Wir stoßen uns beizeiten aneinander, aber immer mit großer Wertschätzung. So macht mir das Arbeiten Spaß.